Paulus Tiozzo hat in einer neuen Dissertation die Geschichte des Literaturnobelpreises und der deutschsprachigen Literatur untersucht. Früher gesperrte Archivdokumente zeigen unter anderem, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie die deutschsprachige Literatur während der beiden Weltkriege betrachtet und wie Hitler und der Nationalsozialismus die Arbeit mit dem Nobelpreis beeinflusst haben.
Nur wenige Preise erregen so viele Gefühle, Diskussionen und Debatten wie der Nobelpreis für Literatur. Jedes Jahr wird darüber spekuliert, welche Autorschaft von der Schwedischen Akademie prämiert werden wird. Wer aber glaubt, hinter der Preisarbeit ein Muster oder eine Logik erkennen zu können, der wird es schwer haben, laut Paulus Tiozzo.
– Alles hängt davon ab, was die Mitglieder der Schwedischen Akademie zu einem gewissen Zeitpunkt gedacht haben. Und das beruht nicht nur auf dem Vermögen des Kandidaten, sondern auch auf persönliche Faktoren, zum Beispiel ob ein Akademiemitglied einen Schriftsteller aus politischen Gründen schätzte oder ablehnte.
Seine Dissertation im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft ist eine historische Studie über den Literaturnobelpreis und dessen Vergabekriterien, ausgehend von den deutschen Schriftstellern, die für diesen Preis zwischen 1901 und 1971 nominiert wurden.
Welche sind denn die Kriterien, die dem Literaturnobelpreis zugrunde liegen? Alfred Nobel schrieb unter anderem, dass der Preis an den Autor vergeben werden sollte, der „das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung“ verfasst hatte. Eine genauere Beschreibung, was das bedeuten soll, existiert nicht.
– Dieser Formel ist ausgehend von den verschiedenen Perspektiven der Akademiemitglieder interpretiert worden. Ich meine, dass man die Geschichte des Nobelpreises nicht verstehen kann, wenn man nicht den spezifischen historischen Zusammenhang betrachtet. Viele haben Gedanken und Meinungen dazu präsentiert, hingegen versuche ich anhand von empirischem Material konkret zu zeigen, wie man die nominierten Schriftsteller bewertet hat.
Ambivalente Beziehung zum Nationalsozialismus
Dass nur die Zeit bis 1971 untersucht wurde, ist praktisch begründet. 50 Jahre lang sind die Dokumente, die die Nobelpreisentscheidungen betreffen, nämlich geheim - erst nach dieser Sperrfrist werden die Akten freigegeben. In der Nobelbibliothek in Stockholm gibt es unter anderem Vorschlagsbriefe, Gutachten, Protokolle und Korrespondenzen.
Der Zeitraum und die Tatsache, dass Tiozzo die deutschsprachige Literatur untersucht hat, bedeutet, dass Teile des Materials davon geprägt ist wie man Deutschland damals, vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft betrachtete. Zum Beispiel hat der Vorsitzender des Nobelkomitees, Per Hallström, die erste Nominierung von Hermann Hesse 1931 entschieden abgelehnt.
– Hallström selbst hatte Propaganda für Deutschland geschrieben, und meinte deshalb, dass sich Hesse mit seiner pazifistischen Gesinnung verachtenswert verhalten hatte, und dass er kein Mitgefühl gegenüber seiner Nation zeigte.
Die Angehörige des Nobelkomitees hatten einen besonders großen Einfluss auf die Arbeit mit dem Nobelpreis – insbesondere der Vorsitzender. Per Hallström hatte den Posten 24 Jahre lang inne, 1922-1946, und verfasste mehrere hunderte Gutachten zu Schriftstellern.
– Er hatte eine ambivalente Beziehung gegenüber dem Nationalsozialismus. Er war von Hitler fasziniert und wurde von den nationalrevolutionären Zügen des Nationalsozialismus angezogen. Er war aber auch sehr kritisch gegenüber dessen Antisemitismus.
Laut Paulus Tiozzo wurde die Arbeit mit dem Nobelpreis in dieser Zeit von Vorsicht geprägt und man versuchte zu vermeiden, in politisch motivierte Probleme zu geraten.
– Wenn man den Preis einem Schriftsteller vergeben hätte, der aus NS-Deutschland geflohen war, hätte dies wahrscheinlich Gegenreaktionen ausgelöst, und das wollte man vermeiden. Man wollte aber auch nicht den Preis an einen Schriftsteller vergeben, der von den Nazis als offiziell sanktioniert vorkam. Überhaupt hat man viel darüber nachgedacht, wie sich die Entscheidung für oder gegen Nobelpreisträger auf das Image der Akademie auswirken könnte. Das galt während des Kalten Krieges auch bei der Bewertung von Kandidaten aus dem Ostblock. Wahrscheinlich stellt man heute noch ähnliche politische Überlegungen, was man jedoch nicht mit Sicherheit wissen kann.
Neue Einsichten über den Nobelpreis als Phänomen
Was Tiozzo während der Arbeit mit der Dissertation am meisten verwundert hat, ist die Perspektive auf die deutsche Literatur in Schweden während des 20. Jahrhunderts, insbesondere bei den Mitgliedern der Schwedischen Akademie.
– Es wird oft behauptet, dass Schweden zu dieser Zeit besonders von deutscher Literatur beeinflusst war, was aber so nicht stimmt. Schwedische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler waren viel kritischer und ausgewogener als häufig angenommen und keine vorbehaltlosen Verehrer von Goethe, Schiller und anderen deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Man bewunderte dagegen mindestens ebenso englische und französische Schriftsteller. Auch dies ist einer der Gründe dafür, warum viele deutsche Nobelpreiskandidaten abgelehnt wurden.
Was erhoffen Sie sich von Ihrer Dissertation?
– Hoffentlich wird sie zu neuen Einsichten zum Literaturnobelpreis als Phänomen und der Bedeutung der deutschen Literatur außerhalb Deutschlands führen. Ich hoffe auch, dass sie ein Interesse für weitere Forschung anregen wird, sowohl zur Literaturgeschichte als auch dem Nobelpreis.